Das Gespräch miteinander oder die absolute Wahrheit

Wenn wir altern, lassen Augen und Ohren nach, die Haare fallen aus, die dritten Zähne kommen rein, die Beine werden schwach, und manchmal zittern die Hände. Doch unser gesprächiger Mund entwickelt sich mit jedem Jahr kräftiger. Deshalb können sich unsere wortreichsten Mitbürger erst in späten Jahren als Politiker profilieren.
Es war einmal ein König, dem seine Minister viel Ärger bereiteten. Sie stritten so heftig miteinander, dass nahezu nichts entschieden werden konnte. Die Minister pflegten einer uralten politischen Tradition, denn ein jeder behauptete, dass er allein Recht und alle anderen Unrecht hätten. Doch als der einfallsreiche König ein großes öffentliches Fest organisierte, waren sich alle darin einig, an diesem Tag frei zu nehmen.
Es war ein spektakuläres Fest, das in einer riesigen Arena abgehalten wurde. Sänger und Tänzer traten auf, Akrobaten, Clowns, Musikbands, Feuerschlucker uns noch viel mehr. Dann kam das Finale. Die Minister, die natürlich die besten Plätze ganz vorn in der ersten Reihe innehatten, sahen, wie der König höchstpersönlich seinen Lieblings-Elefanten in den Mittelpunkt der Arena führte. Dem Elefanten folgen sieben blinde Männer. Jeder in der Stadt kannte diese Männer und wusste, dass sie von Geburt an blind waren.
Der König ergriff die Hand des ersten Blinden und führte sie zum Rüssel des Elefanten. Er teilte ihm mit, dass dies ein Elefant sei. Dann legte er die Hand des zweiten Mannes auf einen Stoßzahn und sagt auch ihm, dass dies ein Elefant sei. Die Hand des Dritten erspürte ein Ohr, die des Vierten den Kopf, der Fünfte erfühlte den Köper, der Sechste die Beine und der Siebte den Schweif. Jedem Mann wurde versichert, dass er einen Elefanten berühre. Dann wandte sich der König an den ersten Mann und bat ihn, einen Elefanten zu beschreiben.
„Nach meiner gut erwogenen und kundigen Meinung“, sagte der Blinde, der den Rüssel ergriffen hatte, „gehört der Elefant mit absoluter Sicherheit zur Spezies der Schlangen, vornehmlich der Phyton“.
„Was für ein hirnrissiger Quatsch!“, rief der zweite Blinde, der einen Stoßzahn in der Hand hielt. „Ein Elefant, ist aus viel zu fester Materie, als dass er eine Schlange sein könnte. Tatsächlich, und ich irre mich nie handelt es sich um einen Bauernpflug“.
„Du machst dich lächerlich“, höhnte der dritte Blinde, der immer noch ein Ohr in der Hand hielt, „Ein Elefant ist ein Palmenblatt-Fächer und sonst nichts“.
„Was seid ihr doch für inkompetente Idioten“ sagte der vierte Blinde lachend, der über den Kopf des Elefanten strich. „Ein Elefant ist ohne jeden Zweifel ein großer Wasserkrug“.
„Unmöglich, völliger Unsinn!“, widersprach der fünfte Blinde und fuhr mit der Hand den Körper entlang. „Ein Elefant, ist viel massiver. Er ist ein Felsen“.
„Solchen Blödsinn habe ich meinen Lebtag noch nicht gehört!“ brüllte der sechste Blinde, der ein Bein abgetastet hate. „Ein Elefant ist ein Baumstamm. Ein Idiot, der daran zweifelt!“
„Welch ein Haufen von Ignoranten!“ empörte sich der letzte Blinde, der den Schweif in der Hand hielt. „Ich kann euch genau sagen, was ein Elefant wirklich ist. Ein Art Fliegenklatsche. Das stimmt ganz gewiss, denn genau das fühle ich.“
„Lächerlich! Es ist eine Schlange! – „Unmöglich, es ist ein Krug!“ – „Was seid ihr doch blöd, es ist …“ Und die Blinden begannen so heftig miteinander zu streiten und brüllten sich gleichzeitig so laut an, dass sich ihre Worte miteinander verschmolzen und als ein einziges lautes Gebrüll zu vernehmen waren. Zu Schmähungen und Beleidigungen kamen dann auch noch Handgreiflichkeiten. Die Blinden schlugen um sich, und es schien völlig unwichtig zu sein, wen oder was sie gerade trafen. Sie fochten ums Prinzip, um Integrität und Wahrheit. Um die eigene persönliche Wahrheit.
Nachdem des Königs Soldaten die ziemlich angeschlagenen Blinden voneinander getrennt hatten, amüsierte sich das Publikum im Stadium über die schweigenden Minister, die beschämt auf ihren VIP-Sitzen saßen. Alle Anwesenden hatten genau begriffen, wem der König eine Lektion hatte erteilen wollen.
Jeder von uns kann immer nur einen Teil jenes Ganzen nennen, das die Wahrheit darstellt. Wenn wir unser begrenztes Wissen als absolute Wahrheit ausgeben, gleich wir den blinden Männern, die alle nur ein Stück des Elefanten erfühlten und ihre eigene bruchstückweise Erfahrung zur Wahrheit erhoben und alles andere für falsch hielten.
Statt uns auf blinden Glauben zu verlassen, sollten wir das Gespräch miteinander suchen.
Stellen Sie sich jetzt bitte vor, was dabei herausgekommen wäre, wenn die sieben blinden Männer ihre Erfahrungen zusammengeführt hätten, anstatt den Informationen der anderen nur zu widersprechen. Sie wären zu dem Schluss gekommen, dass ein „Elefant“ einem Felsen ähnelt, dar auf vier Baumstümpfen steht, hinten eine Art Fliegenklatsche aufweist und vorne einen großen Wasserkrug, an dessen Seiten sich zwei Palmblatt-Fächer befinden, während an der Unterseite zwei Pflüge stecken und in der Mitte eine lange Pythonschlange hervorragt. Das wäre nicht die schlechteste Beschreibung eines Elefanten von Menschen, die nie einen sehen werden.
Das Gespräch miteinander. Auch die Aufgabe einer Führungskraft.

Ajahn Brahm (Die Kuh, die weinte)